Auf der Flucht.

Eine lustige Pfingstgeschichte von Paul Bliß, Berlin.
in: „New Orleanser Deutsche Zeitung” vom 22.05.1904


Lina Bergmann war Lehrerin. Und wer da weiß:, was es heiß:t, in Berlin Lehrerin zu sein, der wird es ganz begreiflich finden, daß: sich Fräulein Bergmann auf die Ferien im Allgemeinen freute, auf die Pfingstferien aber im besondern; sie hatte einen Ausflug nach dem Harz geplant.

Aber wie das nun so im Leben geht: Wenn wir uns auf etwas freuen, dann kommt meist ein unvorhergesehenes Hinderniß: dazwischen, das unsere Freude vereitelt.

So auch hier. Zwei Tage vor Pfingsten kommt Herr Lebrecht, Linas Erbonkel, zu der jungen Lehrerin und macht ihr folgende Eröffnung: „Liebe Lina, Du weiß:t, daß: ich Dich lieb habe und nur Dein Bestes will. Du weiß:t, daß: ich Dir ein Vermögen hinterlasse.”

Lina war erstaunt; sie ahnte nicht, was der alte Herr wollte.

Onkel Bergmann aber sprach unbeirrt weiter: „Damit Du nun aber siehst, daß: ich auch Deine Zukunft im Auge habe, will ich Dir eine erfreuliche Mittheilung machen, — ich habe einen Bräutigam für Dich ausgesucht!”

Lina war so erschrocken, daß: sie gar keine Worte fand.

„Das überrascht Dich, kann ich mir denken, liebes Kind! — aber Du kannst Dich ganz auf mich verlassen, — ich kenne den jungen Mann, — er ist der einzige Neffe meines lieben Freundes Holthaus aus Dresden, der während der Pfingsttage hierher kommt — und dann wirst Du Gelegenheit haben, den jungen Mann, der hier in Amt und Würden ist, näher kennen zu lernen.”

Lina erschrak von neuem, — nicht nur über den angekündigten Bräutigams-Besuch, sondern auch darüber, daß: sie deshalb ihren Pfinhstausflug einbüß:en sollte. Endlich raffte sie sich zu den paar Worten auf: „Aber Onkelchen, ich kann doch nicht einen mir wildfremden Menschen heirathen!”

Onkelchen lächelte überlegen, wie eben reiche alte Onkel immer zu lächeln pflegen. Dann sagte er: „Du hörst ja, Kindchen, daß: du ihn kennen lernen sollst. Auß:erdem kenne ich ihn schon, und dann ist es auch mein und meines Freundes Holthaus sehnlichster Wunsch, unsere Erben vereint zu sehen.”

„Aber wenn er mir nicht gefällt?”

Wieder lächelte der alte Herr: „Er wird Dir ganz gewiß: gefallen, ebenso, wie er mir gleich gefallen hat.”

Lina war rathlos. Erstens dachte sie überhaupt noch nicht daran, zu heirathen, am allerwenigsten einen Menschen, den sie nicht genau kannte, — und dann lag ihr jetzt vor allem daran, ihren Pfingstausflug zu machen. Sie wuß:te aber auch, daß: mit dem Onkel, wenn er sich einmal etwas vorgenommen, nicht zu reden war, und deshalb schwieg sie jetzt und dachte sich. kommt Zeit, kommt Rath.

Aber die Zeit verstrich, und der gute Rath kam nicht. Schon war der Pfingstabend da — morgen früh um 6 Uhr sollte der Extrazug abgehen, — und noch immer war Lina rathlos.

Da endlich im letzten Augenblick entschloß: sie sich, heimlich fortzufahren. Zwar würde der liebe Onkel dann eine Zeit lang recht böse sein, aber sie würde ihm schon zureden und ihn so viel umschmeicheln, bis er diese unselige Heirathsidee aufgab und ihr nicht mehr zürnte.

Und richtig am ersten Pfingsttag dampfte sie früh um sechs Uhr los.

Ordentlich erleichtert war sie, als sie erst im Coupé saß:, und als dann der Zug aus dem Häusermeer hinaus in die freiblühende Frühlingswelt hineinfuhr, da hatte sie bald den Onkel und alles andere vergessen, da jubelte ihre Seele dem Neuen entgegen, das sie nun sehen würde.

Ihr gegenüber saß: ein junger Mann, der ihr bekannt vorkam; sicher war sie ihm im Laufe des vergangenen Winters verschiedene Male begegnet, aber sie konnte sich des Näheren nicht entsinnen.

Als der Zug in Goslar angekommen war, stieg Lina aus; der ihr gegenübersitzende Herr ebenfalls. Drauß:en auf dem Perron suchte sie nach einer bekannten Familie, mit der sie die Partie zusammen machen wollte; diese Familie war aber nicht zu finden. Entweder war sie, wie dies so häufig im Pfingsttrubel zu geschehen pflegt, in einen anderen Zug gerathen oder schon früher ausgestiegen. Lina war allein.

In dem Augenblick trat der junge Mann zu ihr heran, grüß:te höflich und sprach sie an: „Wir sind uns zwar noch nicht offiziell,vorgestellt, gnädiges Fräulein, dennoch aber kennen wir uns wohl schon ein wenig — dem Ansehen nach, meine ich natürlich!”

Lina lächelte unwillkürlich und sagte: „Ja, ja, auch Sie kamen mir gleich bekannt vor, nur wuß:te ich nicht, wo ich Sie schon gesehen habe.”

„Aber wir begegnen uns ja fast jeden Morgen, gnädiges Fräulein! Ich gehe in's Bureau, und Sie — wie ich sah — in die Schule.” Dann stellte er sich vor: „Kraft ist mein Name!”

Lina nickte und stellte sich dann auch vor.

„Und Sie haben, wie ich vermuthe, Ihre Reisegenossen verloren?” sprach er eifrig weiter.

„Leider ja.”

„Das ist heute kein Wunder! Aber ängstigen Sie sich nicht, wir finden die Herrschaften schon wieder. Wenn Sie gestatten, geleite ich Sie in die Stadt. — Ich kenne nämlich Goslar schon.”

Dankend nahm sie sein Anerbieten an. Und so gingen sie nebeneinander, lustig plaudernd, weiter. Und es kam ihr vor, als sei dieser junge Mann ihr gar nicht so fremd mehr, denn er verstand es, so nett und vertraulich zu plaudern, als ob sie bereits alte Bekannte wären — und in der That war ihr sein Gesicht ja auch schon recht gut bekannt, denn sie besann sich nun, daß: sie ihm ja wirklich schon sehr oft begegnet war.

Also shwand die erste Verlegenheit zwischen ihnen bald genug, und sie verlebten eine recht interessante Stunde.

Dann traf man auch die Reisegesellschaft wieder, und nun bat Herr Kraft um die Erlaubniß:, sich anschließ:en zu dürfen, was denn auch bereitwillig zugegeben wurde.

Und dann durchstreifte die ganze Gesellschaftr, — unter Führung des Herrn Kraft, — den Harz, machte Station an allen wichtigen und berühmten Punkten und amüsirte sich ganz köstlich.

Am Abend des dritten Tages erst dachte man an die Heimreise. Und Fräulein Lina, von deren Seite Herr Kraft während all der Touren nicht gewichen war, saß: auch nun wieder ihrem alten Bekannten gegenüber. Anfangs plauderten sie noch ganz lustig von den schönen drei Pfingsttagen; je näher man aber nach Berlin herankam, desto mehr begann die Unterhaltung zu stocken.

Endlich sagte er lächelnd: „Wissen Sie auch, — gnädiges Fräulein, weshalb ich diese Pfingsttour gemacht habe?”

„Nun, doch wohl, um sich zu erholen.”

Lachend verneinte er: „Bewahre! Auf der Flucht war ich! — Vor der Braut bin ich geflohen!”

Erschreckt sah ihn Lina an.

Er aber belustigt: „Mein alter Erbonkel aus Dresden hat nämlich einen guten Freund in Berlin, dieser hat eine Nichte, und die sollte ich heirathen! — Na, das ist 'ne Schrulle von dem alten Herrn, — widersprechen durfte ich nicht, — na und da bin ich denn jetzt, wo Onkelchen nach Berlin kommen wollte, um mir die Braut zu zeigen, — ganz einfach ausgerückt; &mdas; nett, wie?”

Jetzt lachte Lina laut auf; sofort durchschaute sie alles. Dann fragte sie schelmisch: „Und weshalb, — meinen Sie wohl, — sei ich fortgereist von Berlin?”

„Das haben Sie mir ja schon gesagt, gnädiges Fräulein, um frische Luft zu schnappen!” lachte er.

Sie aber verneinte lächelnd: „Auch ich war auf der Flucht, auf der Flucht vor dem Bräutigam! Ja, ja, mein Herr! Uch habe nämlich auch einen alten Erbonkel, dieser hat einen guten Freund, der hat einen Neffen, und den soll ich heirathen. Das behagte mir natürlich nicht, und deshalb habe ich den Pfingstausflug gemacht, denn jetzt gerade wollte Onkels Freund aus Dresden mir meinen Zukünftigen vorstellen; auch nett, wie?”

„Dann ist Herr Lebrecht Ihr Onkel?”

„Und Herr Holthaus der Ihrige?”

Sie nickten beide und lachten dann laut, wie zwei glückliche Kinder.

„Und so sind wir beide denn vor einander aus Berlin geflohen, um uns im Harz zusammenzufinden. Sie sehen, das Leben ist voller Tücken,” setzte er scherzend hinzu.

Von nun an wurden sie die besten Freunde und nun stockte auch die Unterhaltung nicht mehr, — bis sie in Berlin gelandet waren.

Selbstverständlich fuhren sie nun sofort zum Onkel Lebrecht, wo sie denn auch den Onkel Holthaus noch antrafen.

Und selbstverständlich waren die beiden alten Herren nicht wenig erstaunt — oder vielmehr erschüttert.

Und ebenso selbstverständlich endete dieser Pfingstausflug noch mit einer recht heitern Verlobungsfeier!

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